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Bartels, Klaus
Die Welt als Erinnerung
Ueber Mnemotechnik und Geschichte
Scrollheim 1/91 ........................................... ....... Der Titel meines Vortrags "Die Welt als Erinnerung" ist inspiriert von Arnold Schwarzeneggers Film "Die totale Erinnerung (Total Recall)". Freilich nicht von dem penetrant barockisierenden Das-Leben-ein-Traum-Motiv, wodurch sich dieses Medienprodukt seinen Kritikern als Kunstwerk empfiehlt, sondern vom Zeitgeist, der aus ihm spricht: Allenthalben bevoelkern Gedaechtnissuechtige wie Doug Quaid, der Held dieses Leinwand-Spektakels, das Universum der Unterhaltung. Am Spektakulaersten beim amerikanischen SF-Autor William Gibson, desse Cyberpunk-Trilogie nun auch in Deutschland ausserhalb einschlaegiger Fan-Gruppen bekannt werden wird, nachdem nahezu alle bundesdeutschen Nachrichten-, Zeitgeist- und Stadtmagazine aufmerksam geworden sind.

In einer fruehen Kurzgeschichte Gibsons vermietet ein Mann namens Johnny, wohnhaft in "Memory Lane", sein Gedaechtnis als Datenbank an fremde Nutzer. "Johnny Mnemonic" (1981), so der Titel der Erzaehlung, ist in vielerlei Hinsicht die Keimzelle des 1984 erschienenen mehrfach preisgekroenten Romans "Neuromancer". Das betrifft vor allem das Thema der Mnemotechnik, von Gibson buchstaeblich als neuronale Implementiertechnik verstanden: Dem mnemonischen Johnny werden die abgespeicherten Daten "durch eine modifizierte Serie mikrochirugischer kontraautistischer Prothesen eingespeist. ...Der Code des Klienten ist in einem eigenen Chip gespeichert" (Gibson 1988, 23). Die Verschaltung von Gehirn und Computer macht es moeglich, mittels "Neuralunterbrecher" und anderer Geraete das Nervensystem von aussen zu manipulieren. Die Hirn-Computer-Direktleitung ist aber auch die Voraussetzung fuer die Trips der datensuechtigen Romanhelden Gibsons durch Datenstaedte, Datenlandschaften und riesige Datenuniversen, die sich unmittelbar hinter dem Bildschirm des Personal Computers erstrekken. Diese Gegenden, wo Tote als ROM-Konstruktionen ueberleben und Lebende voruebergehend zu Software werden, heissen seit Gibson Cyberspace.

Schwarzenegger spielt einen Reisenden in Cyberspace, einen Cybernauten. Sein Doug Quaid laesst sich von einem Recall-Unternehmen, das darauf spezialisiert ist, Reise-Erinnerungen statt Reisen zu verkaufen, mental auf den Mars schicken und geraet dabei in die totale Erinnerung: Die aktuelle Gehirnmanipulation macht eine dem Helden zuvor unbemerkte Manipulation rueckgaengig und aktiviert ein Implant, das seine eigentliche Identitaet als Mars-Agent freilegt. Die technischen Umstaende der aktuellen Manipulation sind erheiternd. In einer Art phantomischem Stuhl sitzend erhaelt Quaid-offenbar fuer die organische Substanz des Gedaechtnisses-zuerst eine Injektion; die kybernetische Codierung besorgen danach geheimnisvolle Strahlen, deren Wirkung auf die Implanate durch gewaltige mimische Anstrengungen des Schauspielers nachgewiesen werden. Das einzige Implanat, das dem Zuschauer gezeigt wird, ist eine im Gehirn versenkte Wanze, die Schwarzenegger bei Gelegenheit aus seiner Nase pult.

Gibsons Cybernauten schieben sich der Einfachheit halber Chips in den Schacht ihrer Schaedel. Gleichwohl sind sie altmodisch. Case, der Held aus dem Roman "Neuromancer", muss sich von seinem Gegenspieler vorwerfen lassen, er habe in punkto Gedaechtnis "immer noch die Muster des gedruckten Worts" vor Augen (Gibson 1987, 223). Der ihm das sagt, zaehlt selbst die "silber-schwarze Vakuumroehre" seines in dieser Technowelt altertuemlichen Fernsehers zum Teil seiner DNS. Es handelt sich bei diesem Wesen also um das Endprodukt der TV-Evolution, um eine antiliterale Kuenstliche Intelligenz, die sich mit Hilfe der Cybernauten aus den Fesseln menschlicher Kultur zu befreien versucht. Dieser Befreiungsversuch der KI konstituiert die Handlung von "Neuromancer".

Die Evolution des Fernsehens begann spaetestens mit MOTIVAC, einem in den Fersehempfaengern installierten Messgeraet fuer Einschaltquoten, das sich nicht damit begnuegt, "den Augenblick anzuzeigen, in dem der Apparat eingeschaltet wird, sondern auch die tatsaechliche Anwesenheit von Personen vor dem Bildschirm" (Virilio 1989, 146). Der franzoesische Geschwindigkeitsphilosoph Paul Virilio zitiert dieses Beispiel als Beleg seiner These, dass die Medienmaschinen zurueckzusehen beginnen und eine die menschliche Sicht auf die Welt korrumpierende Sehweise durchsetzen werden, das Sehen ohne Blick.

Nach Virilio ist der groesste von den intelligenten Sehmaschinen angerichtete Schaden die "topographische Amnesie". Er geht davon aus, dass die von der antiken Mnemotechnik entwickelte Faehigkeit, mentale Bilder zu generieren und an bestimmten Orten des Gedaechtnisses zu deponierne, infolge der Entwicklung technischer Memorialsysteme wie des gedruckten Buchs, der optischen Aufzeichnungssysteme und der multimedialen Computer zunehmend verkuemmert ist.

Ich halte diese These fuer falsch, denn noch fuer das 18. Jahrhundert ist der Zusammenhang von Ort und Gedaechtnis selbstverstaendlich. In seinem Roman "Anton Reiser" schreibt Karl Philipp Moritz, die Orte gaeben der vagabundierenden Einbildungskraft der Kinder gleichsam Konsistenz:

"So maechtig wirkt die Vorstellung des Orts, woran wir alle unsre uebrige Vorstellung knuepfen.- Die einzelnen Strassen und Haeuser, die Anton taeglich wiedersah, waren das Bleibende in seinen Vorstellungen, woran sich das immer Abwechselnde in seinem Leben anschloss, wodurch er das Wachen vom Traeumen unterschied.Ñ" (Moritz 1972, 91)

Aber auch noch 1888, in Conan Doyle's "A Study in Scarlet (Studie in Scharlachrot)", wird das Gedaechtnis topographisch aufgefasst, obwohl sich mittlerweile mit dem Fotoapparat ein wesentliches technisches Memorialsystem der Neuzeit verbreitet hat und die topographische Amnesie fortgeschritten sein muesste. Sherlock Holmes beschreibt sein Gedaechtnis folgendermassen:

"...ich bin der Meinung, dass das Hirn eines Menschen urspruenglich wie eine kleine leere Dachkammer ist. Ein Narr nimmt allen Plunder auf, ueber den er stolpert, so dass das Wissen, das ihm nuetzen koennte, von der uebrigen Menge verdraengt oder bestenfalls von all den anderen Dingen verstellt wird, so dass er es schwerlich erfassen kann. Der geschickte Arbeiter dagegen wird sehr sorgsam mit jenen Dingen umgehen, die er in seine Hirnmansade holt. Er nimmt nur jenen Werkzeuge auf, die ihm bei seiner Arbeit helfen koennen, aber von diesen hat er ein grosses Sortiment, und alle sind geordnet und in bestem Zustand. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, dieser kleine Raum habe elastische Waende und sei beliebig dehnbar. Verlassen sie sich darauf: Es kommt eine Zeit, da Sie fuer jede neue Kenntnis etwas vergessen, das Sie vordem gewusst haben. Es ist daher von groesster Wichtigkeit, dass nicht nutzlose Fakten die nuetzlichen verdraengen." (Doyle 1984, 21f.)

Nach meiner Auffassung bezeugen die beiden Zitate aud dem "Anton Reiser" und aus der "Studie in Scharlachrot" ein Weiterleben der antiken Mnemotechnik. Von anwachsender topographischer Amnesie kann jedenfalls nicht die Rede sein. In striktem Gegensatz zu Virilio behaupte ich, dass das Interesse an der antiken Memorialtopologie durch die Probleme wiederbelebt wird, die sich aus der Konstruktion synthetischer intelligenter Sehmaschinen ergeben. Ich halte das Konzept des "Cyberspace" beispielsweise fuer eine Neuauflage barocker Memoriallandschaften-dem gelernten Anglisten Gibson ist eine Kenntnis des beruehmten Buches von Frances A. Yates ueber "The Art of Memory" durchaus zuzutrauen, hierfuer spricht sein "Johnny Mnemonic". Vielleicht sind auch die barocken Metaphern in "Die totale Erinnerung" nicht zufaellig. Ich moechte nachfolgend, um meine Vermutungen zu untermauern, einige zentrale Kriterien der Mnemonik vorstellen und einen kurzen Abriss ihrer Geschichte geben.

Die Mnemotechnik - Exkurs
Bilder und Orte

Mnemotechnik ist die Erstellung von Bildarchiven im Kopf. Die antiken Theoretiker gingen davon aus, dass das Behalten von Orten und Dingen durch Bilder wesentlich erleichtert werde. Diese Bilder muessen grosse emotionale Kraft besitzen, damit der Erinnerungseffekt moeglichst stark ist. Nach Auffassung des unbekannt gebliebenen Auctors ad Herennium, der die grundlegenden und fuer die Nachfolger massgebenden Strukturen solcher Gedaechtnisbilder beschrieb, duerfen sie nicht der Alltagswelt entnommen sein. Gedaechtnisbilder muessen entweder besonders selten, auffallend schoen oder haesslich sein. Wichtig ist, so schreibt Cicero, dass sie die Seele heftig erschuettern (Cicero, De oratore II, 358). Gedaechtnisbilder haben daher einen hohen Erregungsfaktor. Sie sind dem Delirium benachbart, nicht der Realitaet. Es herrscht ein strenges Mimesisverbot: Wer sich das Wort Schiff zum Beispiel merken will, der darf nicht das Bild eines Schiffes abspeichern.

Die Bilder werden an imaginaeren Orten im Gedaechtnis deponiert. Solche eingebildeten Orte koennen Gemaelde, Details der staedtischen Umwelt, ein Haus, eine Mauer, Boegen oder, wie bei Sherlock Holmes, eine Mansarde sein. Auch Sehenswuerdigkeiten einer Reise eignen sich nach der Theorie hervorragend als Memorial-Deponien. Dementsprechend sind Anton Reisers Mnemo-Orte der Topographie der von ihm durchwanderten Landschaften und Staedte entnommen.

Die Mnemotechnik war seit 100 v. Chr. Bestandteil des Rhetorik-Unterrichts. Sie sollte die freie Rede erleichtern. Die "topoi" oder "Gemeinplaetze" der Rede waren Orte, die sich der Redner nach den Regeln der Mnemonik z.B. in einem imaginaeren Haus eingepraegt hat. Die Rede ist das memorierende Durchwandern der Raeume dieses Hauses, in denen zuvor die unterschiedlichen Bilder abgelegt wurden. Ist das Haus "vollgespeichert", geht der Redner ueber die Strasse in ein anderes Gebaeude usw.

Geschichte

Waehrend der Spaetantike verfiel die Gedaechtniskunst, um im 13. Jahrhundert bei Thomas von Aquin und anderen mittelalterlichen Autoren, u.a. bei Ramon Llull und bei Dante wieder aufzubluehen. Zugleich entstand eine letterale Variante, die Llullsche "Ars Magna". In ihrem Zentrum stand eine Vorrichtung aus drei konzentrischen, ineinander rotierenden, am Rand mit Buchstaben versehenen Kreisscheiben. Durch das Drehen der Scheiben ergaben sich jeweils neue Buchstabenkombinationen, der Kode des Wissens, der den Gedaechtnisspeicher oeffnete. Buchstaben ersetzten die Bilder.

Giulio Camillo uebertrumpfte im 16. Jahrhundert mit seinem Memorialtheater die klassische Lehre. Als Speicher diente kein gewoehnliches Haus, sondern das antike vitruvianische Amphitheater. Eine wesentliche Neuerung Camillos war ausserdem die Verwendung astrologischer Ikonen und ihre Verbindung zu einem Ortssystem, das die universale Ordnung spiegeln sollte. Giordano Bruno nahm in seinen Schriften auf diese hermetische Version der Memoria Bezug, weil er in ihr einen magischen Schluessel fuer die Dekodierung der kosmischen Geheimnisse vermutete.

Ein mnemonisches System in aehnlich enzyklopaedischer Absicht entwarf zu Beginn des 17. Jahrhunderts der deutsche Bruno-Herausgeber (Artificium perorandi, 1612) Johann Heinrich Alsted. Bei ihm geraet, wie Wilhelm Schmidt-Biggemann gezeigt hat, die Mnemonik zur psychologischen Fundamentalkunst. Dies ist durchaus folgerichtig, denn die Gedaechtnisbilder sollen ausdruecklich auf die Seele einwirken; und schon Aristoteles machte hinsichtlich seines Konzepts der Assoziation Anleihen bei der Mnemonik (Blum 1969, 75ff.).

Der psychologische Aspekt der Erinnerungskunst unterminiert in Alsteds Enzyklopaedie staendig die systematische Ordnung:"Memoria konnte kein Ordnungsschema abgeben, da sie nur psychologisch fundierte, nicht begrifflich ordnete" (Schmidt-Biggemann 1983, 120). Der psychologische Aspekt ist aber Grund dafuer, dass Alsteds Mnemonik noch eine Weile diskutiert wurde, obwohl sie seit 1620 keine Rolle in seinem Werk mehr spielte (ebd.).

In Ermangelung spezieller Fachliteratur benutzten die Paedagogen zu Beginn der Aera der Alphabetisierung Alsteds "Systema Mnemonica" von 1610 als Steinbruch fuer didaktische Tricks und Kniffe, mit denen das Erlernen des Lesens und Schreibens erleichtert werden konnte. So griff Johannes Buno 1651 in seiner "Neuen Lateinischen Grammatica" den Vorschlag auf, die grammatischen Kategorien zu visualisieren, zum Beispiel die Genera durch die Bilder eines Mannes, einer Frau und eines Hermaphroditen im Gedaechtnis zu verorten. Seine Grammatik bietet einen entsprechenden Holzschnitt: Die drei Figuren der Genera sind mit unzaehligen Bildern und Zeichen, mit Deklinationsendungen, Symbolen und Zahlen beschriftet. Zusammen mit der imaginaeren Landschaft, in die sie gestellt sind, bilden sie gleichsam die gesamte Topographie der Lateinischen Sprache. Johann Justus Winckelmann, ebenfalls ein Schueler Alsteds, verwendet wie Buno den menschlichen Koerper als Erinnerungssystem ("Relatio Novissima" 1648, Blatt Cx). Johann Amos Comenius schliesslich, der bei Alsted studiert hatte, loest den menschlichen Koerper vollstaendig in Software auf. In der "Boehmischen Didaktik" macht er den Vorschlag, fuer den Unterricht Modelle statt der Realien zu verwenden, zum Beispiel den menschlichen Koerper:

"Nimm aus einer anatomischen Sammlung ein Skelett des menschlichen Koerpers (...) und schreibe auf jeden Knochen mit Tusche deutlich den Namen und seine Aufgabe. In gleicher Absicht lasse man aus Leder die inneren Organe nachbilden... Auch hier lasse man wieder aufschreiben, wie alles genannt wird. Auf die gleiche Art koennen auch aus Leder die Adern, die Arterien, die Nerven, die Sehnen und die Muskeln gemacht werden; schliesslich lasse man den ganzen Koerper mit Leder ueberziehen." (Comenius 1970, 155)

Dieses memoriale System verstoesst gegen die Grundregel der Mnemotechnik, dass das Gedaechtnisbild, hier: die Lederpuppe, nicht mit dem zu memorierenden Sachverhalt, hier: dem menschlichen Koerper, uebereinstimmen darf. Comenius reagiert auf die wachsende Kritik der Paedagogen an der Willkuerlichkeit und deliranten Wirkung mnemonischer Bilder; er beschneidet die Freiheit der visuellen Zeichen, indem er sie zu einer "Ausdrucksfunktion des Objekts" (Schmidt-Biggemann 1983, 302) macht: Fuer jedes Teil des Objekts steht ein Teil des Modells und hierfuer wiederum ein Symbol, Name und Funktion des Teils.

Auf eine aehnlich repraesentationistisch-symbolische Ordnung zielt Johann Joachim Becher mit seiner Enzyklopaedie aus "Mutter=Sprach" und einem "Theatrum Naturae & Artis" (Becher 1668, Vorrede). Bei diesem Zwillingsarchiv handelte es sich um ein begehbares Datenuniversum, um ein Cyberspace des 17. Jahrhunderts: Becher wollte eine Gesamtschau des Wissens einrichten, die ganze Welt in Form von Daten einem einzigen, mehrstoeckigen Gebaeude einverleiben.

Die repraesentationistisch-symbolische Ordnung, zu der die Mnemotechnik von Comenius und Becher verbogen wird, ist die Grundvoraussetzung fuer die Verrechnung von Symbolen als Technik der Gedaechtnisspeicherung bei der elektronischen Datenverarbeitung. Ich werde darauf noch ausfuehrlicher zurueckkommen.

Als offizielle serioese enzyklopaedische Wissenschaft hat die Mnemonik seit Alsted ausgedient. Aber es ist nicht nur eine Fussnote, wenn Diderot den Aufbau einer Enzyklopaedie mit der Gruendung einer grossen Stadt vergleicht und wie selbstverstaendlich mnemonische Metaphern benutzt; wenn er zudem in der grossen franzoesischen Enzyklopaedie mehrfach auf die ars memorativa zurueckkommt.

Solche Wertschaetzung indes bleibt vereinzelt. Generell kann die Memorialtopik nur im Untergrund der Kultur ueberleben, in der Literatur, bei Gedaechtniskuenstlern, Detektiven und in psychologischen Instituten, die mit Gedaechtnisschulung ihr Geld verdienen. Im 18. Jahrhundert ist sie noch bekannt, so zum Beispiel bei Goethe. Anfang des 19. jahrhundert erscheinen einige Werke zur Mnemonik, u.a. 1810 Christoph Freiherr von Aretins "Systematische Anleitung zur Theorie und Praxis der Mnemonik" und 1813 Gregor von Feinaigles "The New Art of Memory", seinerseits Vorbild fuer Flauberts fiktiven Mnemoniker Dumouchel aus dem Roman "Bouvard et Pécuchet". Im 20. Jahrhundert lassen sich mnemonische Traditionen bei Freud, Wittgenstein und Marshall McLuhan nachweisen (Bartels 1987). MIt Helga Hajdus "Das mnemonische Schrifttum des Mittelalters" von 1936 beginnt eine zaghafte Mnemonikforschung, die ihren Gegegnstand ernst nimmt. 1966 setzt Frances A. Yates mit "The Art of Memory" Massstaebe. Und gegenwaertig herrscht ein Mnemo-Boom. Kongresse finden vermehrt statt, im Jahre 1989 gleich zwei. Ich selbst stehe hier vor Ihnen und trage meinen Aerger ueber Paul Virilios schnellschuessiges Konstrukt der topographischen Amnesie vor.

Die Aktualitaet der Mnemonik

In der Bundesrepublik Deutschland findet das Revival der Mnemonik derzeit einen fruchtbaren Boden. Aufgrund der juengsten politischen Ereignisse verwandelt sich Deutschland in ein Land der Erinnerungen, in ein gigantisches Museum: Besorgte …kologen befuerworten die Konservierung der Mauer und des ehemaligen sogenannten Todesstreifens, auf dem sich im Verlauf von vierzig Jahren deutscher Teilung vielfaeltiges Leben ausgebreitet hat. Besorgte Buerger warnen vor der Zerschlagung der noch nicht nach westlichem Muster sanierten DDR-Stadtbilder. Die ganze fruehere "Ostzone" gleicht einer musealen Zone des Verfalls, einer Industrie- und Gewerbebrache, wie sie das "Deutsche Architektenblatt" 1986 im Namen der Natur fuer westdeutsche Industriegebiete forderte: "Hinter der Zone steht die Absicht, die Eindimensionalitaet der Welterfahrung im Funktionskreis der anthropozentrischen Naturbeherrschung aufzubrechen." (Schwarz 1986, 1386)

Anderen schwebt die Einrichtung einer Berliner historischen Meile vom Gelaende der ehemaligen Reichskanzlei bis zum NS-Reichssicherheitshauptamt vor. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Hitlers Baumeister Albert Speer, der in seine Bauten deren Zerfall gleich einplante, damit sie als Ruinen dereinst den roemischen Monumenten glichen. Speer baute keine Staedte, er baute memoriale Landschaften.

Aber dieses eher nationale Phaenomen der Selbstmusealisierung bietet keine Erklaerung fuer den Mnemo-Boom auf internationaler Ebene, es bedarf vielmehr seinerseits der Ergruendung. Weltweit gesehen wurde die antike Mnemonik durch das Konzept des Desktop Publishing wieder aktuell. Die Architecture Machine Group um Nicholas Negroponte, den Gruender und Direktor des Media Lab am amerikanischen MIT (Massachusetts Institute of Technology), entwickelte in den 70er Jahren die Desktop-Metapher aus der ehrwuerdigen Memorialtechnologie. Die zuendende Idee, auf dem Bildschirm eine Schreibtischoberflaeche mit Papierkorb, Schere und Radiergummi zu simulieren, also einen virtuellen "Gedaechtnis-Raum" zu schaffen, der dem wirklichen Arbeitsplatz des potentiellen Nutzers nachempfunden war und damit die Orientierung erleichterte, war inspiriert vom griechischen Poeten Simonides, einem Gruendervater der Mnemonik. Auf ihn beriefen sich Negroponte und sein Co-Autor Richard Bolt in einer Studie ueber die Verarbeitung raeumlicher Daten (1977) ausdruecklich (Brand 1990, 171). Negroponte und Bolt beschraenkten sich nicht darauf, Simonides zu comuterisieren, sie bezogen die Gedaechtnistheater der Renaissance mit in ihre Ueberlegungen ein. In derartigen virtuellen Raeumen speicherte nach ihrer Auffassung seinerzeit jeder mediterrane Intellektuelle sein Wissen ab (ebda., 172). Ein elektronisches "Memory-Theatre" fuer den heutigen Intellektuellen legte 1985 Robert Edgar vor (Kunstforum 103, 130).

Das amerikanische Unternehmen Apple schlachtete mit dem Macintosh-Computer die memoriale Desktop-Metapher erfolgreich aus. Es koppelte den PC wie einen imaginaeren Buero-Schreibtisch an ein imaginaeres literales Archiv, das wie herkoemmliche Archive aus "Cards" (Karteikarten) und "Stacks" (Kartenstapel) besteht, nur kann der Nutzer hier durch die Waende der Karteikaesten gleichsam hindurchsehen und beliebige Verbindungen zu anderen Karteischraenken herstellen. Apples Konzept des "Knowledge Navigators" begibt sich noch tiefer in den Raum eines virtuellen Gedaechtnistheaters: Eine sprechende Software-Konstruktion soll den Nutzer sozusagen an die Hand nehmen und mit ihm durch das Datenuniversum seines PCs pilgern, wie dies die Cybernauten Gibsons zu tun pflegen. In der Forschung ist zunehmend von "Welten", "Gegenden" und "Wegweisern" beim Informationsretrieval die Rede. So schreibt Rafael Capurro in seiner "Hermeneutik der Fachinformation": "Fachbegriffe sind keine Etiketten sondern Wegweiser, die in einer bestimmten 'Gegend'(...) auf ein Moegliches hinweisen" (Capurro 1986, 129). Francisco J. Varela versteht Intelligenz in seiner Auseinandersetzung mit dem "Artificial-Intelligence"-Konzept der Kognitationswissenschaft als das Gehen eines Weges in moeglichen Welten. Viabilitaet ist ein signifikantes Merkmal intelligenten Verhaltens:

"Der Grundgedanke besteht (...) darin, dass kognitive Faehigkeiten untrennbar mit einer Lebensgeschichte verflochten sind, wie ein Weg, der als solcher nicht existiert, sondern durch den Prozess des Gehens erst entsteht. Daraus folgt, dass meine Auffassung der Kognitation nicht darin besteht, dass diese mit Hilfe von Repraesentationen Probleme loest, sondern dass sie vielmehr in kreativer Weise eine Welt hervorbringt, fuer die die einzige geforderte Bedingung die ist, dass sie erfolgreiche Handlungen ermoeglicht: sie gewaehrleistet die Fortsetzung der Existenz des betroffenen Systems mit seiner spezifischen Identitaet" (Varela 1990, 110).

Varelas Auffassung von Intelligenz ist topologisch. Wie die Mnemoniker versteht er unter Denken und Erinnern das Reisen in imaginaeren Gedankengebieten und Bilddepots. Denken und Erinnern sind ausserdem nicht mimetisch, sie spiegeln keine wirkliche, sondern konstruieren eine moegliche, eine virtuelle Welt. Dies entspricht dem Mimesisverbot der Gedaechtniskunst.

Varela richtet sich gegen den symbolischen Repraesentationismus der Kognitationswissenschaft. Aus neurophysiologischer Sicht verwirft er die Annahme, Gedaechtnis sei die Verrechnung von Symbolen, die eine vorgegebene Welt repraesentieren, mit einer informationsverarbeitenden Problemloesungs- und Speichermaschine, dem Gehirn. Nach seiner Auffassung dient das Gehirn als selbstorganisiertes System spontan und uebergreifend zusammenwirkender Neuronen "vor allem dem staendigen Hervorbringen von Welten im Prozess der viablen Geschichte von Lebewesen; das Gehirn ist ein Organ, das Welten festlegt, keine Welt spiegelt" (Varela 1990, 109).

Ich hege allerdings den Verdacht, dass das von Varela vorgeschlagene Modell des neuronalen Netzwerks das Problem der Repraesentation nicht wirklich loest, sondern lediglich auf eine andere Ebene verschiebt. Varela selbst bezeichnet den Unterschied zu den orthodoxen Kognitivisten als "subtil"; von ihnen unterscheidet er sich dadurch, dass er die Symbole "als approximative makroskopische Beschreibungen von Operationen" (Varela 1990, 83) und nicht als Repraesentanten von vorgegebenen Objekten auffasst. Er loest die Symbole gewissermassen auf in die Desoxyribo-Nukleinsaeure (DNS) und fragt nach den genetischen Bedingungen der Symbolentstehung: "z.B. Warum kodiert ATT die Aminosaeure Alanin ?" (Ebda., 84.) Wie Comenius in seinem repraesentationistisch-symbolischen Modell des menschlichen Koerpers so rekurriert auch Varela auf ein Alphabet. Waehrend jedoch Comenius sich auf das Schul-ABC bezieht, verwendet Varela das Alphabet des genetischen Kodes. Die Unterschiede beider Kodiersysteme liegen in der Lesbarkeit. Die mit den jeweiligen Namen und Funktionen beschrifteten Teile des Koerpermodells, die Knochen, die Leber, die Milz kann jeder des Lesens und Schreibens Kundiger entziffern, die DNS-Kodierungen nur der Neurophysiologe. Repraesentationistisch sind beide Systeme, das barocke und das moderne. Irgendein Supertext wird sich schon finden lassen, auf den sich die genetische Schrift bezieht und den sie repraesentiert.

Die Analogie der Kybernetik zum Barock wird von Neurophysiologen selbst hergestellt:

"Durch die Technologie der Kybernetik bestaetigen wir, die Menschheit des 20. Jahrhundert, die Auffassung des Mittelalters, die Welt sei ein Buch, und die des Barock, sie sei ein Theater. Wieder erscheint uns die Welt als eine Hierarchie von Kodes und Sprachen. Wieder einmal nimmt sich die Menschheit wahr als Schauspieler in einem Spiel der Zeichen und als Dramatiker, der am Skript des Menschheitsschauspiels schreibt." (Fischer 1986, 418f. Uebersetzung von mir).

Aus diesem Zitat-ich hoffe, Roland Fischer hat es trotz meiner Uebersetzung wiedererkannt-spricht eine gewisse Seelenverwandtschaft, in woertlichem Sinne. 1658 bildet Comenius in seinem "Orbis Pictus" die menschliche Seele ab. Sie besteht aus einer punktierten Umrisszeichnung des in eine Unzahl von Punkten aufgeloesten menschlichen Koerpers, der vor eine Leinwand gestellt ist. Die barocke Seele, das ist das Pixelbild des Menschen auf dem Screen des PC. Und dorthin zieht es den Cybernauten, das Barock mit der Seele suchend.

Auch neurophysiologische Konzepte der Intelligenz beruhen entgegen dem ersten Anschein auf der Schrift, nicht auf einer visuellen Topologie. Dieser Vorrang des Literalen entspringt dem Dogma der Neuzeit, wonach die Schrift ein hoeheres Erkenntnisvermoegen befriedigt als das Bild. Seit die Printkultur in Form der Bucharchive eine literale Alternative zu den traditionellen topologisch-optischen Speichern der Mnemotechnik schuf, gelten Intelligenz und Gedaechtnis nach dem Muster des Lexikons und des in ihm enthaltenen Wissens als literale Faehigkeiten. Die Stagnation in der Gedaechtnispsychologie ruehrt denn auch-so das Fazit eines Forschungsberichtes-aus der Verabsolutierung des verbalen Lernens (Arbinger 1984, 221). Wenn etwas die topographische Amnesie erzeugt, von der Virilio spricht, dann die Schrift. Schriftgelehrte sind es, Paedagogen, Literaturwissenschaftler und Feuilletonisten, die der Mnemonik gegenwaertig durch Veroeffentlichungen, Kongresse und Symposien zu einer Scheinbluete verhelfen, ihr in Wirklichkeit aber den Garaus machen. Ein Symposium im Dezember 1989 in Konstanz trug den Titel "Text als Mnemotechnik".

Der mnemonische Hunger

Ich habe einige Gruende angefuehrt, die den gegenwaertigen Mnemo-Boom eher beschreiben als erklaeren, den wohl wichtigsten jedoch bisher nicht, den mnemonischen Hunger. Anders als mit Hunger kann ich mir die Sucht nicht erklaeren, die Cybernauten dazu veranlasst, sich in eine Teekanne, einen Hummer und andere Gegenstaende oder in Software aufzuloesen. Der notorische Vilém Flusser, der fuer alle elektronischen Ereignisse eine Erklaerung bereit haelt, sieht in der Mehrdimensionalitaet kuenstlicher Raeume ein "aus unserem Inneren herausgetretenes Traeumen" (Kunstforum 108). Timothy Leary, ehemaliger LSD-Papst, propagiert Cyberspace als ultimative Power-Droge, denn hier wird der Rausch begehbar. "From Psychedelics To Cybernetics" ist ein Vortrag betitelt, mit dem Leary die noch nicht zur "Virtual Reality" bekehrte Welt auf seinen Reisen missioniert.

Der mnemonische Hunger ist keineswegs brandneu. Ray Bradbury beschreibt ihn bereits 1951 in seiner Kurzgeschichte "Das Kinderzimmer". Bei diesem Zimmer handelt es sich um einen literarischen Vorlaeufer von Cyberspace. Es ist ein elektronischer Kasten, zwoelf Meter im Quadrat, neun Meter hoch, der die telepathischen Gedankenstroeme der Kinder in dreidimensionale Bilder verwandelt. Im Laufe der Zeit hat sich ein bestimmtes Phantasiemuster ausgepraegt: Stereotyp sendet der Raum das Buschbild Suedafrikas. Die besorgten Eltern rufen einen Psychologen zu Hilfe, weil sie ahnen, dass ihre Kinder sich in die Loewen hineinphantasieren, die in diesem Video staendig mit Fressen beschaeftigt sind. Doch die infantilen Toetungsphantasien, den mnemonischen Hunger, koennen sie nicht unterbinden. Die Eltern werden am Schluss der Erzaehlung von den Loewen gefressen, nachdem ihre Kinder sie in den Cyberspace eingesperrt haben. Ein zweites Motiv des "Kinderzimmers" ausser dem mnemonischen Hunger ist also das Wirklichwerden innerer Landschaften, ihre Verlagerung nach aussen. Der Hunger ist offensichtlich nur stillbar durch die Wiederaneignung veraeusserlichter innerer Topographien. Ich moechte diesen Gedanken durch einen Rueckblick auf die Geschichte der Mnemotechnik vertiefen.

Die erste Phase dieser Geschichte ist gekennzeichnet durch die Verinnerlichung der Aussenwelt zu einem inneren Gedaechtnisraum, den man in der abendlaendischen Geschichte Seele zu nennen gelernt hat. Die Sublimierung der mnemonischen Bilder beim Kirchenvater Augustinus bildet in dieser Hinsicht einen signifikanten Einschnitt in die Geschichte der Seele.

Die zweite Phase, die Exteriorisierung der inneren mnemonischen Landschaft, beginnt in der Renaissance. Nach John Dixon Hunt verwirklicht der Renaissance-Garten mnemotechnische Prinzipien (Hunt 1986, 73), was Frances Yates bestaetigt (Yates 1975, 78). Aehnliches gilt fuer den englischen Landschaftsgarten.

Die Architektur erhaelt ebenfalls memoriale Funktionen. So war Camillos mnemotechnische Adaption des vitruvianschen Theaters das Vorbild fuer Robert Fludds "Theatre Memory System", das seinerseits auf das reale Globe Theatre verweist. Campanellas utopische "Citt‡ del Sole" ist mnemonisch konzipiert. Sie besteht aus kreisfoermig um einen konzentrischen Tempel gebauten Haeuserwaellen, auf die das gesamte Wissen der Welt gemalt ist, so dass die Bewohner ihre Stadt wie ein lokales Erinnerungssystem nutzen koennen. Zwar ist bisher eine Kenntnis dieses Konzepts bei dem franzoesischen Revolutionsarchitekten Claude-Nicolas Ledoux nicht nachgewiesen; dessen nie gebaute Stadt Chaux weist aber viele memoriale Komponenten auf, die dem Sonnenstaat-Projekt Campanellas entnommen sein koennten. Ledoux' Lehrer Etienne-Louis Boullées gab sich gar nicht erst mit Wohnbauten ab, er plante Nekropolen, memoriale Staedte also. Die staedtische und natuerliche Umgebung des Menschen verwandelt sich allmaehlich in ein begehbares Museum.

Gleichzeitig wird der aus dem individuellen Gedaechtnis nach aussen verlagerte mnemonische Raum aufgeladen. Bei Alsted geriet die Mnemonik ja schon zur Fundamentalpsychologie, und dieser Trend setzt sich fort. Fuer viele Autoren des 18. Jahrhunderts bildet die memoriale Topologie ein Begriffsmuster, mit dem sie Seelenzustaende beschreiben. In seiner "Lebensgeschichte Tobias Knauts, sonst der Sammler genannt", charakterisiert Johann Carl Wezel 1773 ein weibliches Gesicht auf topologische Weise:

"Man denke sich das Gesicht der Frau Knaut als ein Gemaehlde von einem Gebaeude mit drey Stockwerken:... In jedem wohnt eine besondere Empfindung, und sieht -so zu sagen!- zum Fenster heraus".

In diesem Stil geht es eine Weile weiter. Auch Karl Philipp Moritz verwendet in seinem Roman "Anton Reiser" topologische Metaphern, um den Seelenzustand seines Romanhelden zu schildern-ein Beispiel von vielen habe ich Ihnen zu Beginn genannt.Die Romantiker gestalten die aeussere Landschaft als Seelenlandschaft, gemaess der Parole, die Welt muesse romantisiert werden.

Den Stab uebernimmt die Psychoanalyse von der Literatur. Freud vergleicht in "Das Unbehagen in der Kultur" das Gedaechtnis und die Seele mit den historischen und topographischen Schichten Roms (Freud 1971, 69f.). C.G. Jung versteht sich offensichtlich als Archaeologe in einem Seelenhaus:

"Wir haben ein Gebaeude zu beschreiben und zu erklaeren, dessen oberes Stockwerk im 19. Jahrhundert errichtet worden ist; das Erdgeschoss datiert aus dem 16. Jahrhundert, und die naehere Untersuchung des Mauerwerks ergibt die Tatsache, dass es aus einem Wohnturm des 11. Jahrhunderts umgebaut worden ist. Im Keller entdecken wir roemische Grundmauern und unter dem Keller findet sich eine verschuettete Hoehle, auf deren Grund Steinwerkzeuge in der hoeheren Schicht und Reste der gleichzeitigen Fauna der tieferen Schicht entdeckt werden. Das waere etwa das Bild unserer seelischen Struktur" (Jung 1931, 180).

Mit C.G. Jung moechte ich die kleine Geschichte der Exteriorisierung des Gedaechtnisses und der Seele abbrechen und auf den Kollektivtraum Cyberspace zurueckkommen, denn als einen solchen begreift Gibson die "Virtual Reality". In seiner fruehen Erzaehlung "Das Gernsback-Kontinuum" (1981) findet sich eine verblueffende Parallele zur Metaphorik Jungs. Dem Helden dieser Geschichte begegnen Kollektivtraeume-Jung wird ausdruecklich genannt-, reale, aus Kollektivsehnsuechten hervorgegangene Traumstaedte, und hinter der wirklichen Architektur Haeuser aus zerbroekkelten Traeumen:

"Und als ich die heimlichen Ruinen abfuhr, fragte ich mich, was die Bewohner dieser abhandengekommenen Zukunft von der Welt, in der ich lebte, halten wuerden" (Gibson 1988, 44)

Cyberspace ist, mit anderen Worten, das gesamte Universum als gigantischer mnemonischer Behaelter gedacht, angefuellt mit wirklichen und moeglichen Welten sowie Welten der vergangenen Zukunft. Die Gegenwart ist daher nicht einfoermig, sie besteht aus mehreren untereinander vernetzten Weltzustaenden. So kann es durchaus geschehen, dass das Subjekt, wie in dieser Erzaehlung, die "Wahrscheinlichkeitsmembran" (ebd., 44), durchstoesst und in einen anderen Weltzustand eintaucht, der nicht die Gegenwart ist. Dabei begegnen ihm "semiotische Phantome" (ebd., 46), liegengebliebene Hoffnungen, unbefriedigte Traeume: sein virtuelles seelisches Innere.

Der mnemonische Hunger entspringt der Vertauschung von Innen und Aussen. Der Konsumismus stillt ihn, der Weltverbrauch, die stueckweise Wiederaneignung veraeusserlichter innerer Topographien. Darum ist das Angebot des Recall-Unternehmens in "Die totale Erinnerung" so unwiderstehlich: Das Reisen in zurueckerstatteter innerer Topologie ist moeglicherweise wirklicher als eine wirkliche Bewegung von Ort zu Ort, als zum Beispiel eine Reise nach Suedtirol.

Literaturverzeichnis

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copyright: Bartels, Klaus

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