Net_Rez_Texte ... der Redaktion Scrollheim ... Kunst im Netz ... Buecher ... Kataloge ... Aktuelles ... back to Scrollheim # Index ...

[ net.art 2.0 ] ... Tilman Baumgaertel / Verlag fuer moderne Kunst Nuernberg

Top .................................................................. ................

Mann, was ist denn Kunst ;-) ? (...) Tilman Baumgaertel / pd / Jan. 2002 / wir erinnern uns

Net.art ist ein anerkannter Markenartikler. Nicht erst, seitdem Tilman Baumgaertel sein Buch so genannt hat (99) oder Josephine Bosma sich in den kleinen Punkt zwischen nett und artig verliebte: "I like the term 'net.art', especially because of that little dot in it" (97).

Unter dem Label Net.art arbeiten Kuenstler mit und ohne Netz im Internet: Netzkuenstler, bildende Kuenstler, Net.artists aber auch Aktivisten, die dich anherrschen: "Mann, was ist denn Kunst? (...) Vergiss es!" So jedenfalls Jodi im Interview mit Tilman Baumgaertel.

Dabei ist die Frage Schnee von gestern. Joachim Blank hat sie in seinem Aufsatz (96) beantwortet: What is netart ;-) ?

oder aber doch nicht ;-) ? Natalie Bookchin, Alexei Shulgin haben ihr Manifest:
Introduction to net.art im Netz ausgelegt, das klugerweise mit einem Utopian Appendix: "After net.art" versehen ist (99). Egal ob sie sich auf Joseph Kosuth's "Art after Philosophy" (69) bezogen haben oder nicht.

Unmutige Kunsthistoriker, unlustige Medienwissenschaftler nehmen die Artivisten im Netz nicht ernsthaft zur Kenntnis, denn sie wissen: "etwas ist Kunst oder eben keine Kunst". Unter diesem Paradigma werden die derzeitigen Netzkuenstler wohl auch (... in einer fernen Zukunft) eingeordnet und/oder eingeebnet.

Mir selbst ist nicht bekannt, was sogenannte Net.art sein sollte. Kunst laesst sich nicht so einfach ausdeuten oder eingrenzend spezifizieren. Vielleicht koennte eine richtig gestellte Frage helfen: was ist das, was das ist ;-) Net.art ?

Ein falsifikativer Ausschluss netzkuenstlerischer Anstrengungen, die nicht im Hinblick auf die Moderne (Konzeptionalitaet, Kontextualitaet, ...) angelegt sind, waere problematisch: Die substantielle Bedeutung von Kunst/Moderne liegt auch im Uebertrag ins Netz in ihrer Erneuerung auf sogenannt ausserkuenstlerischen Feldern Werbung (Toscani / Benetton), Musik-Clips (Kraftwerk, Pet Shop Boys, Bjoerk, Yellow), Fernsehen (Schmidt, Schneider, Ulmen, Stuckrad-Barre), Netz (CCC, jodi, etoy, rtmark). Damit sind die kuenstlerischen Methoden veraendert. Sie sind als ausdrueckliche Strategien der Beobachtung der Beobachter von Kunst und Gesellschaft zu verstehen. Wesentlicher als der materielle Abzug des Kunstwerkes an der Galeriewand ist die kuenstlerische Haltung ausserhalb der Ideologie der Institution Kunst anzusehen. Und danach? Schon jetzt koennen wir aus der kurzen Geschichte des "Gegenueber von Gesellschaft" (Adorno ... Chaos Computer Club) oder des "Gegenueber von Kunst" (Duchamp ... jodi) lernen, dass alle Anstrengungen in kuerzester Zeit aufgegriffen und als Verbesserung als Abdichtung der attackierten Systeme "verwendet" werden.

Wem also ist geholfen, wenn die manifestierten Vorgaben von Bookchin + Shulgin abgearbeitet werden? Unter der heraufbeschworenen Maxime: "The practical death of the author" hangele ich mich an den Stichworten nach unten: "Chose Mode = Activist" dann weiter: "Parasitism as Strategy: 7. Be sincere. 8. Shock. 9. Subvert (self and others)" … ich lasse mich belehren, ernsthaft Punkt fuer Punkt; dann lese ich noch einmal laut, spreche ich die Thesen aus: ... ironisch ;-) ?

Hier moechte ich an die sechs Prinzipien anknuepfen, die Tilman Baumgaertel dem sozialen Anstand oder dem Gelingen von Netzkunstwerken zugrunde gelegt hat: "Konnektivitaet, Globalitaet, Multimedialitaet, Immaterialitaet, Interaktivitaet und Egalitaet", nun (...) wenn ich alle meine Sinne zusammennehme, kann ich die Kunst der Moderne (also seit der franzoesischen Revolution) ziemlich locker ueber diese Kriterien springen lassen. Stefan Krempl meint aufgeschlossener Weise sogar: sie, die Prinzipien, treffen "auf so ziemlich jede Website zu". Man koennte z. B. auch die Meinung gelten lassen, dass "Buecher immer noch die besseren Hypertexte sind", denn gedankliche Querverweise und Fussnoten erlauben schon lange den globalen Diskurs, nicht nur der Dichter und Denker. Oder anders und Watzlawick weitergedacht, koennte ich behaupten, dass ich oder mein Gegenueber (Subjekt oder Objekt) sowieso nicht nicht interaktiv sein koennen.

Die Spezifikation des Netzes, die ohne Zweifel einer Kunst im Netz zugrundeliegt, ist nicht selbst eine Kunst. Ob dieser Verweis aus Gruenden des guten Geschmacks ausgesprochen wird - wie bei Alfred H. Barr - oder im Namen des Sozialismus - wie bei Clement Greenberg - ist eine Frage des persoenlichen Stils, welche das grundsaetzliche Verdikt nicht veraendert (vgl. Texte zur Kunst, Nr. 1, 1990).

Die Malerei hat mit der Erfindung der Fotografie ihre eigenen spezifischen Ausdrucksmittel und Abstraktionsformen herausgebildet. Der Druck nachfolgender Medien verwirft und verschiebt immer den gesamten Medienverbund. Wie also veraendert sich Fotografie, Audio, Video und Fernsehen als Kunst, wenn wir deren schon moegliche Digitalisierung einbeziehen?

Vielleicht bleibt uns von der materiellen fotografischen Abbildfunktion, von dem fotografischen Bild, von dem perspektivischen Weltbild nur die daraus entstandene heutzutage vorherrschende Weltanschauung.

Hinter der Spezifitaet des Netzes verbirgt sich ein Rechner, ein Computer: die Universelle Maschine. Sie ist kein Werkzeug und kein Denkzeug, sie ist, wenn man so will, ein Simulationszeug. Mit dieser Veranlagung zur Simulation (der Simulation), ist das wwweb wie alle technischen Kommunikationsmedien grundiert.

Auf Grund der Universalitaet des Computers, die auch als Spezifik des Unspezifischen beschrieben werden kann, ist nicht die Frage zu stellen, ob seine Spezifik in Bild-, Ton-, Text- oder einer anderen Verarbeitung liegen koennte. Der Vorteil ist, dass prinzipiell alles im Computer gehandhabt werden kann. Diese un.Spezifik kann in der Moeglichkeit der Verknuepfung unterschiedlichster Medien gesehen werden - und in der Moeglichkeit diese Moeglichkeiten iterativ weiterzudenken.

Der Computer, der in seiner un.Spezifik dem Netz und damit auch der net.art zugrunde liegt, ist das.Medium.

So gesehen ist auch keine spezifische (an aesthetische Bedingtheiten gebundene) Computerkunst zu denken. Sie ist von wissenschaflichen Diagrammen, journalistischen Aufmachern, gutem Design ebenso wenig zu trennen oder zu unterscheiden, wie von privatistischen Erguessen oder grundlos angerichtetem Kitsch. Entscheidend ist hier der konzeptionelle Ansatz in Uebereinstimmung mit der Haltung des Kuenstlers oder einer beliebig privaten Person.

Indem man diese un.Spezifik des Computers auf das Netz uebertraegt, erschliesst sich ein unbegrenztes Feld. Hier kann jede bedeutungsfreie oder verantwortungslose Person private Simulationen auf den schwankenden Grundlagen des Netzes befestigen, aus dem "so-tun-als-ob-Bereich" herausheben und institutionalisieren. In dieser Ueberpruefungsphase des Mediums Internet, liegen die ueberkommenen kuenstlerischen Verfahren der "ver-Wendung" des Materials auf der Hand. Und in der Tat werden heute Aesthetik, Kommunikation, Hardware, Software, Interfaces und das System selbst vom Kopf auf die Fuesse gestellt. Oder etwa umgekehrt, weil auch diese Moeglichkeit im Programm des Computers vorgesehen ist?

Aktivisten im Netz spielen Ueberraschung: poppende Fenster, verrutschende Buttons, ueberlagerte Texte, warnende Alert-Felder. Nun gut, wir wissen ja: alles ist moeglich. Der Browser spielt verrueckt. Die ungebetenen Gaeste kennen kein Escape, kein Alt-F4, kein Befehlstaste-Punkt. Don't touch a running system? Um nach Hause zu kommen, lasse ich den Computer mal selbst abstuerzen.

Es gibt keine schlechte oder gute Kunst - und: all diese herzigen Attacken sieht man ja nur einmal, dann hat man sie gesehen. Kunst ist Kunst oder eben nicht. Wenn nun so manches im Netz keine Kunst waere, obwohl der Aktivist dem Manifest gefolgt, den Prinzipien treu ergeben gewesen ist ;-) ? - dann war es wohl moeglich die not.wendige Arbeit an der globalen Einheit Kultur.

Tilman Baumgaertels net.art 2.0 folgt seinem net.art - Materialien zur Netzkunst, das 1999 im Verlag fuer moderne Kunst Nuernberg erschien. Seine Methode kennzeichnet er als Oral History und versucht sich als Autor so weit wie moeglich verschwinden zu lassen. Interviews, die Baumgaertel mit 20 Kuenstlern gefuehrt hat, liegen als theoretisches Material vor. Dieser kuenstlertheoretische Aspekt, indem Kuenstler ueber die Entwicklung ihrer Arbeiten Auskunft geben, stellt deren Ansaetze unter eine Selbstbeleuchtung, die man in einem kunst- oder medienwissenschaftlichen Diskurs so nicht installieren koennte.

Baumgaertels eigene Sicht und Vorgaben in bezug auf Netzkunst folgen der kunstgeschichtlich umstrittenen Autoritaet Clement Greenbergs, der die amerikanischen Expressionisten innerhalb der spezifischen Bestimmungen des Mediums Malerei (zu recht) als wahre Kuenstler guter Werke formierte. Das war in der Zeit angebracht. Vergesssen aber sollten wir nicht, dass vor allem das Medium Fotografie (seit ~1835) diesen Wirkungsdruck auf die Vormacht der Malerei ausuebte und sie so mit dem Auftrag zur Selbstdefinition erpresste.

Unverstaendlich erscheint mir die Aussparung der kunstgeschichtlichen Entwicklung, wie sie sich z.B. in der Nachfolge Duchamps formuliert. Diese Tendenz der ehemaligen Gegenwartskunst ist - in bezug auf das Medium Internet - geradezu unumgaenglich. An Beuys, Warhol, Kosuth, Weiner, Sturtevant, General Idea u.a. liesse sich der Uebergang von der Konzeptkunst (als Stilrichtung) zu konzeptionellen Arbeiten in der Kunst (als etwas Strukturelles) - in bezug auf das Netz - ausgezeichnet darstellen und diskutieren.

Die Interviews sind klug und zureckhaltend gefuehrt, die Auswahl der Artisten und Aktivisten bildet die Netzszene der jeweils zurueckliegenden zwei Jahre ab.

2001 ... Nam June Paik Douglas Davis Julia Scher Peter Halley Ken Goldberg John F. Simon, Jr. ®™ark Blank & Jeron Igor Stromajer Rosa Smite & Raitis Smits James Stevens Jodi Mark Napier Lisa Jevbratt 0100101110101101.ORG James Wallbank Etoy Surveillance Camera Players Micromusic Christoph Kummerer

1999 ... Robert Adrian X Rena Tangens Padeluun Heiko Idensen Wolfgang Staehle Walter van der Cruijsen Juliane Pierce Eva Wohlgemuth Vuk Cosic Matthew Fuller Alexei Shulgin Joan Heemskerk Dirk Paesmans Marko Peljhan Cornelia Sollfrank Victoria Vesna Stelarc Olia Lialina Heath Bunting Paul Garrin

net.art 2.0 von Tilman Baumgaertel
Neue Materialien zur Netzkunst / New Materials towards Net art / 2001
260 Seiten mit 100 Abildungen, zweisprachig (deutsch / englisch), Uebersetzung: David Hudson
€ 32,- ... DM 63,- ... öS 475,- ... sFr 59,-
Verlag für moderne Kunst Nuernberg
ISBN 3-933096-66-9

net.art von Tilman Baumgaertel
Materialien zur Netzkunst / 1999
Herausgegeben vom Institut für moderne Kunst Nuernberg
180 Seiten mit 91 Abb., davon 63 in Farbe, broschiert, 20,9 x 24 cm
€ 30,- ... DM 58,- ... öS 423,- ... sFr 52,50
ISBN 3-933096-17-0

top .................................................................. ................

copyright: bei den Autoren + Redaktion Scrollheim: Ana Dimke (ad), Peter Dimke (pd), Ulrike Haussen (uh), Karl-Josef Pazzini (pz)

... back to Scrollheim # Index ...