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Flusser, Vilém
Fotografieren als Lebenseinstellung
Scrollheim-Vorlaeufer: Kuenstlich 1/89
..................................... ....... Beim Fotografieren stellt man ein, bevor man aufnimmt. Nicht was man einstellt (naemlich sich selbst und einen Apparat), und nicht was man aufnimmt (naemlich Objekte), sondern die Reihenfolge dieser beiden Gesten ist das Bemerkenswerte. Denn in dieser Reihenfolge kommt eine neue Bewusstseinsebene zum Ausdruck. Die Tatsache, dass wir aufnehmen (wahrnehmen), und dass wir uns dazu irgendwie einstellen (uns dafuer oeffnen) ist wohl seit eh und je an- und hingenommen worden, und mindestens seit den Fruehsokratikern ist sie Thema boden- und uferloser erkenntnistheoretischer Diskussionen. Aber, dass wir nur das aufnehmen wozu wir uns einstellen, und dass das Aufgenommene eine Funktion des Einstellens ist, das ist erst seit der Erfindung der Fotografie konkret und handgreiflich ins Bewusstsein gedrungen. Das will dieser Beitrag bedenken.

Dazu ist es nicht noetig, sich in die boden- und uferlosen epistemologischen Diskussionen einzulassen. Die hier unterbreitete Hypothese ist, dass all dies seit der Erfindung der Fotografie gegenstandslos ist. Die Frage, ob es eine objektive Welt gibt, die darauf wartet, von unseren Apparaten (Sinnen) aufgenommen zu werden, oder ob im Gegenteil unsere Apparate eine Welt aus sich hinausprojizieren, (also die "realistische" und "idealistische" Frage im neuzeitlichen Sinn), klingt in gegenwaertigen Ohren geradezu phantastisch. Seit wir fotografieren, wissen wir aus eigener Praxis, wie das mit dem Einstellen und Aufnehmen vor sich geht. Wir wissen, dass es dabei darum geht, ein Bild herzustellen, und dass dieses Bild eine Folge von Lichtstrahlen ist, die auf einer empfindlichen Oberflaeche chemische Reaktionen hervorgerufen haben. Dank diesem unserem Wissen haben sich die vorangegangenen epistemologischen (und die damit zusammenhaengenden ontologischen) Fragen verschoben, und sind in diesem neuen Kontext zu stellen.

Es geht darum, Bilder zu machen. Die Frage "wozu eigentlich?" sei fuer spaeter verschoben. Zuerst verlangt die Frage "wie?" bedacht zu werden. Es gibt gegenwaertig zwei Methoden. 1. Man nimmt eine eigens dafuer programmierte empfindliche Oberflaeche, schiebt sie in eigens dafuer programmierte Apparate, stellt diese auf eigens dafuer programmierte Weise an im Raum schwingende Photonen ein, und die Folge ist ein Bild, das wir "Abbild" nennen. 2. Man nimmt eigens dafuer programmierte Algorithmen, schiebt sie in eigens dafuer programmierte Apparate, stellt diese auf eigens dafuer programmierte Weise an in einer Kathodenroehre schwirrende Elektronen ein, und die Folge ist ein Bild, das wir "Vorbild" nennen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als seien die "Abbilder" (Fotos) Illustrationen fuer den modernen Realismus, und die "Vorbilder" (Computerbilder) Illustrationen fuer den modernen Idealismus. Diesen ersten Blick muss man sich abgewoehnen. Denn man kann beide Methoden koppeln, zum Beispiel Videos mit Computern. Dann kann man aus Abbildern Vorbilder, und aus Vorbildern Abbilder machen. (Man kann Fotos digitalisieren, und synthetische Bilder fotografieren.) Worum es geht ist (wie gesagt) nicht ein Ideologiestreit, sondern es geht um konkrete Bilder.

Aber wozu eigentlich macht man Bilder? Wozu stellt man etwas ein um etwas aufzunehmen? Aus dem gleichen Motiv (aus der gleichen Intention), woraus ueberhaupt alles gemacht wird. Naemlich um aus Moeglichkeiten konkrete Wirklichkeiten zu machen. Hier wird dieses Motiv (diese Intention) beim Fotografieren eben besonders deutlich. Da gibt es zum Beispiel einen Apparat, und er kann im ausserfotografischen Kontext als ein Objekt (als Folge vorangegangener Realisationen) angesehen werden. Aber im fotografischen Kontext ist der Apparat eine Menge von moeglichen Bildern. Und dann gibt es zum Beispiel einen Fotografen, und er kann im ausserfotografischen Kontext als ein Subjekt (als Folge vorangegangener Realisationen) angesehen werden. Aber im fotografischen Kontext ist der Fotograf eine Menge von moeglichen Bildern. Und schliesslich gibt es zum Beispiel im Raum schwirrende Photonen, und sie koennen im ausserfotografischen Kontext als Folgen vorangegangener Realisationen (etwa vorangegangener Lichtbrechungen auf Oberflaechen) angesehen werden. Aber im fotografischen Kontext sind die Photonen eine Menge von moeglichen Bildern. Wenn nun diese Moeglichkeitsfelder "Apparat", "Fotograf" und "Photonen" irgendwie eingestellt werden, dann werden einige dort angelegte Moeglichkeiten als Bilder verwirklicht. Das heisst, Apparat, Fotograf und Photon wird erst im Foto wirklich, und vorher sind sie nur moeglich. Dasselbe laesst sich von allen ausserfotografischen Kontexten sagen: auch sie sind allesamt verwirklichte Moeglichkeiten. Das haben wir beim Fotografieren handgreiflich gelernt.

Aber das ist schwer zu erlernen. Nicht so sehr wegen des Apparates und den Photonen, sondern wegen des Fotografen. Bei den Photonen schlucken wir gern, dass sie erst im Foto wirklich werden, denn wir koennen sie nur so aufnehmen (oder so aehnlich). Beim Apparat ist das schon unbequemer, denn wir koennen ihn fassen ohne zu fotografieren. Aber wir koennen einsehen, dass er zuerst moeglich sein musste, bevor er wirklich wurde, und sogar einsehen, dass er zu guter Letzt nicht viel anders verwirklicht wurde als die Photonen. Beim Fotografen ist die Sache anders, denn es geht hier "pro domo". In die Ecke getrieben, koennen wir zugeben, dass erst im Bild sich jemand als Fotograf verwirklicht, und vorher nichts anderes war als eine Moeglichkeit (eine Intention) zum Fotografieren. Aber ausser dieser Intention muss doch dieser Jemand irgendetwas Wirkliches gewesen sein (zum Beispiel nur ein Saeugetier von der Art "homo sapiens") und dieses Wirkliche muss diese Intention "gehabt" haben? Intentionen muessen doch von irgendwo ausgehen? Selbst in die Ecke getrieben klammern wir uns an einen harten Kern (an den Glauben an die "Seele" oder an den modernen Humanismus).

Die fotografische Praxis zwingt uns, wenn genauer besehen, den Kern aufzugeben. Dort zeigt sich naemlich, dass die Intention tatsaechlich von nirgendwo ausgeht. Dass sie nicht eine Ausstrahlung sondern eine Einstellung ist. Nicht ein mit einem Apparat versehenes Saeugetier macht Bilder aus Photonen, sondern Bilder entstehen, wenn Saeugetiere, Apparate und Photonen irgendwie aufeinander eingestellt sind. (Beim automatischen Fotografieren sind die Saeugetiere uebrigens nicht nur ueberfluessig, sondern stoerend.) Und die fotografische Praxis zwingt uns auch, Abstand von dieser Einstellung zu nehmen. Die Einstellung selbst zeigt sich als Folge einer Meta-intention, naemlich eines fotografischen Programms, aus welchem Fotograf, Apparat und Photonen aufeinander eingestellt wurden. Und dieses Programm wieder erweist sich als Folge einer noch "hoeheren" Intention, (die wir etwa "kulturell" nennen koennten), und diese Hierarchie von Intentionen steht nach hinten offen. Nirgends stossen wir bei dieser Regression auf irgendeinen harten Kern.

Die fotografische Praxis zwingt uns, das waehrend des Fotografierens erlebte auf ueberhaupt alle Lebwnssituationen auszudehnen. Dieses dort Erlebte kann etwa so gefasst werden: Was wir einst als das "Ich", das "Selbst" (oder wie immer) reifiziert haben, erweist sich als eine spezifische Einstellung von Moeglichkeiten ineinander kreuzenden Moeglichkeitsfeldern, und was wir dabei erleben ist eine spezifische Intention, welche durch diese eingestellten Moeglichkeiten hindurch (durch "uns hindurch") auf eine spezifische Verwirklichung abzielt. Was wir einst als "Ich" reifiziert haben, erweist sich als eine in einem Programm vorgesehene Tendenz in Richtung von Realisationen. Das koennen wir (nach Erfindung der Fotografie) in allen Lebenslagen erkennen: dass wir nichts anderes sind als programmgemaess zu verwirklichende Moeglichkeiten, und dass wir erst wirklich "wir" werden, wenn wir diese durch uns hindurchstroemende Intention vollziehen: wir sind was wir sind in durch uns erzeugten Fotos (oder ueberhaupt in durch uns erzeugten Verwirklichungen). Oder: "ich" ist die Summe aller durch meine Moeglichkeiten hindurch verwirklichten Taten ("res gestae").

Damit verschiebt sich das ontologische und epistemologische Problem aus seinem traditionellen Kontext in einen neuen. Es geht nicht mehr um die Frage nach einer objektiven Welt, der ein Subjekt gegenuebersteht, und darum, wie sich dieses Subjekt zur objektiven Welt einstellt. Sondern jetzt wird deutlich, dass die Trennung zwischen Subjekt und Objekt Folge eines spezifischen Programms ist, und dass dieses Programm auf eine Verwirklichung absieht. "Subjekt" und "Objekt" erscheinen jetzt als programmierte Strategien, um ein Foto herzustellen. Zu fragen ist, wie wir uns dieses uns selbst und die objektive Welt in einem Foto (oder anderen "Taten") verwirklichende Programm vorzustellen haben. Die fotografische Praxis zwingt uns, nach dem Fotoprogramm (nach dem Lebensprogramm ueberhaupt) zu fragen.

Um sich davon ein Bild zu machen, muessen wir fotografisch (das heisst kalkulatorisch und komputierend) denken. Wir muessen uns Punktschwaerme vorstellen, welche gerafft werden, um Wirklichkeiten zu werden. Zum Beispiel: Schwaerme von Photonen, von Silbersalzmolekuelen, von Molekuelen eines Apparats, von Urteilspartikeln, Entscheidungspartikeln, Erlebnispartikeln, Wunschpartikeln werden komputiert (aufeinander eingestellt), und ergeben ein Foto. Analysiert man das Foto, dann kann man daraus diese gerafften Partikel (etwa die Photonen und die Dezideme) herauskritisieren. Die Vorstellung dabei ist die eines Drahtgeflechts (so wie es auf digitalisierten Computerbildern ersichtlich ist), innerhalb welchem sich eng gestreute Taeler bilden (zum Beispiel eben Fotos). In diesen Taelern laufen die einzelnen Faeden zusammen (im Fall des Fotos die Faeden der Photonen, des Apparats und des Fotografen). Tatsaechlich sind die Taeler Ueberschneidungen verschiedener Moeglichkeitsfelder. Etwa wie der Planet Werde ein Tal ist, worin sich Gravitations- und magnetische Felder ueberschneiden. Wenn wir fotografisch denken, werden wir faehig, dass seitens der Natur- und Kulturwissenschaften entworfene Weltbild konkret zu erleben.

Das fuehrt allerdings nicht nur zu einer bewussteren Einstellung beim Fotografieren, sondern ueberhaupt zu einer neuen Lebenseinstellung. Wir fotografieren dann nicht mehr im naiven Glauben, dabei etwas Objektives (Metaphysisches) abzubilden, sondern im vollen Bequsstsein, dass wir uns dabei selbst relisieren. Und dabei (sozusagen als Nebenprodukt) Objekte einzubilden. Und wir erleben uns nicht mehr als "objektiv bedingt" (etwa seitens Natur- oder transzendenten "Gesetzen"), sondern wir erleben uns als Gesetze (Ordnung) Moeglichkeitsfelder entwerfend. Kurz: wir erleben ueberhaupt, was wir im Fotografieren im besonderen erleben: die Welt und wir selbst sind so wie wir sie und uns selbst von einer spezifischen Einstellung aus entwerfen.

Dieses neue Lebensgefuehl, nicht Subjekte sondern Projekte zu sein, aeussert sich in unseren Gesten. Es geht uns nicht mehr darum, uns von Bedingungen zu befreien, (uns wissenschaftlich, technisch und politisch zu engagieren), sondern darum, von Einstellung zu Einstellung zu wechseln, Standpunkte zu akkumulieren (und projektiv-schoepferisch zu engagieren). So wie es beim Fotografieren nicht darum geht, irgendein Objekt zu beherrschen (es aufzunehmen), sondern zu einer gegebenen Moeglichkeit so viele wie moegliche Standpunkte einzunehmen, um diese Moeglichkeit so reichhaltig wie moeglich zu realisieren, so geht es im Leben ueberhaupt darum, die in uns angelegten Moeglichkeiten so reich wie moeglich gegen Moeglichkeitsfelder zu realisieren. Der modernen, wissenschaftlich-technisch-politischen Lebenseinstellung folgt eine kuenstlerisch-komputierende, "post-moderne".

Wir erleben uns, dank wissenschaftlicher Erkenntnis und fotografischer Praxis, als Projekte innerhalb einander ueberschneidender Programme. Einige dieser Programme werden bereits einer Untersuchung unterworfen, zum Beispiel das physikalische und das biologische Programm, innerhalb dessen wir uns als Moeglichkeiten erkennen. Die meisten dieser Programme sind bisher nicht deutlich fassbar, obwohl wir sie mit Namen wie "okzidentale Kultur" oder "psycho-somatische Tendenzen" benennen. Das Entscheidende ist nicht, diese Programme zu durchblicken (sie koennen als schwarze Kisten hingenommen werden), sondern sie zu Ueberschneidungen zu fuehren. Es ist fuers Fotografieren nicht entscheidend, seine optischen, chemischen und psychologischen Faktoren zu durchblicken, sondern diese Faktoren gegeneinander einzustellen. Diese, sagen wir "kybernetische" Einstellung (es geht um Input und Output) ist fuer die neue projektive Lebenseinstellung kennzeichnend. Das kann man so formulieren:

Wir sind Knotenpunkte ineinander ueberschneidender Moeglichkeitensfelder. Alle diese Felder neigen dazu, sich zu zerfransen (immer wahrscheinlicher, uninformativer zu werden). Das ist das grundlegende Programm, das sich durch uns hindurch verwirklicht. Aber in uns und durch uns kann dieses Programm umgestuelpt werden. Durch uns und in uns kann Unwahrscheinliches projiziert werden (zum Beispiel Fotos). Das ist die Intention aus welcher hinaus wir Fotos (und ueberhaupt alles) projizieren, um dem Fotoprogramm (und allen Programmen) entgegenzuprojizieren. So haben wir uns (und die Welt) einzustellen.


Flusser, Vilém
Der Braunschweiger Loewe
Scrollheim-Vorlaeufer: Kuenstlich 1/89 ...
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Waeren die Begriffe "braun" und "Loewe" in Braunschweig nicht so geschichtlich belastet, dann koennte man sagen, es gaebe einen braun schweigenden Loewen in drei Auflagen, und dass die eine davon so beleuchtet ist, damit das Braun als ein Gruen erscheinen moege. Das waere dann eine schoene Geschichte:

Der herrliche romanische Loewe in seiner noch ungebrochenen barbarischen Kraft ist vom roemischen Geist gezaehmt worden, und statt zu bruellen strahlt er jetzt schweigend ein Gruen aus, das dank dem Zahn der Zeit (Oxydation) aus dem Braun emporgetaucht ist.

Diese schoene Geschichte koennte dann als verkuerzte Geschichte Braunschweigs (und Deutschlands ueberhaupt) gelesen werden. Das Wort "Braunschweig" koennte dann nicht nur vom banalen "Brunswik", sondern auch von einem die Barbarei dank roemischem Geist bezaehmenden Heinrich abgeleitet werden. Und "deutsch" wuerde dann eine Methode bedeuten, dank welcher sich das barbarische Bruellen in die lateinische Formenstrenge ergiesst, wie Bronze in begrenzende Regeln, um in Schoenheit zu strahlen. Leider ist diese schoene Geschichte (die doch eigentlich moeglich war) nicht tatsaechlich eingetreten. Haette das okzidentale Geschichtsbewusstsein ein Herz, dann waere der Westen von einem Traenenozean ueberflutet, dessen Traenen diese verlorene Gelegenheit beweinen. Denn tatsaechlich steht der braun schweigende Loewe zwischen Bergen-Belsen und Helmstedt, und er verschweigt sein Braun, verdeckt es mit gruen, um uns die wahre Geschichte vergessen zu lassen. Es gibt Leute, welche behaupten Kunst sei besser als Wahrheit. Wenn solche Leute vor dem braun schweigenden Loewen stehn, dann sehn sie das herrliche gruene Strahlen. Sie lassen sich (um es mit Platon zu sagen) von der Erscheinung bestricken. Oder (um es mit Schiller zu sagen) in eine bessere Welt entruecken. Andere Leute jedoch sind der Meinung, Kunst fuehre zur Wahrheit. Wenn solche Leute vor dem braun schweigenden Loewen stehn, dann wird er fuer sie zu Wahrzeichen und Mahnung. In beiden Faellen ist der Braunschweiger Loewe ein Denkmal, eins, der zum Denken anregendsten im Westen.

copyright: Flusser, Vilém

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