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Lingner, Michael
Kunst als "Metaphorische Selbstverwaltung"
Modell einer Bibliothek als offenes Kommunikationssystem
Scrollheim 1/91 ................................................................ ....... Die vielfaeltigen, in der Kunst der 60er Jahre erfolgten Grenzueberschreitungen haben auch vor dem Medium "Buch" nicht haltgemacht. Es ist zu einer eigenstaendigen, neuen kuenstlerischen Form entwickelt worden und figuriert nun selbst als ein Kunstobjekt, statt nurmehr im ueblichen Sinn bibliophile Qualitaeten zu haben. Im Unterschied zum herkoemmlichen, bloss informativen Kunstbuch versteht sich ein Kuenstlerbuch selbst als eine kuenstlerische Arbeit und ist damit zugleich ein besonderer Ausstellungsort von Kunst. Bemerkenswerterweise erfolgte diese Aufwertung des Buches zu einem Ort authentischer aesthetischer Erfahrung gleichzeitig mit einer medientheoretischen Diskussion und radikalen Infragestellung der Existenzmoeglichkeit des Buches etwa bei McLuhan (1968) oder Enzensberger (1070).

Die kuenstlerischen Bestrebungen, das Buch zu einem aesthetischen Objekt zu machen, waren nicht nur dem Verdacht der Antiquiertheit ausgesetzt, auch oekonomische Intressen wurden unterstellt (Claura 1973). In Buchform konzipierte Ausstellungen, wie sie etwa von dem amerikanischen Kunsthaendler S. Siegelaub (1968) mit Kuenstlern der conceptual art programmatische betrieben wurden, erforderten einen vergleichsweise nur minimalen technischen und finanziellen Aufwand. Jedoch waren bei aller Plausibilitaet diese wirtschaftlichen genausowenig wie jene medienkritischen Ueberlegungen bestimmend fuer die eigentlich kuenstlerischen Entscheidungen.

Vielmehr haben massgebliche Kuenstler der 60er Jahre das Buch fuer sich entdeckt, weil ihnen eine "Kunst der unmittelbaren Einbeziehung des Betrachters" vorschwebte, die "von (diesem) eine entwickelte, aktiv-beteiligte Arbeit fordert" (Celant, S.81). Solchen Vorstellungen ueber eine neue, insbesondere demokratischere Weise der Kunstrezeption ist das Buch ueberaus entgegenkommend: Anders als das Tafelbild oder die Sockelplastik war es kuenstlerisch weitgehend unverbraucht, da sich mit ihm als "integrale(m) Bestandteil des alltaeglichen Kommunikationssystems" noch keine "spezifisch aesthetische oder artistische Eigenschaft a priori" (Celant, S.83) verknuepft. Gleichwohl war es durchaus kulturell eingefuehrt als ein unprivilegiertes Arbeitsinstrument, das nach einer direkten haptischen und mentalen Betaetigung des Rezipienten verlangt. Insofern darueberhinaus die Wahrnehmung bei einem Buch unweigerlich verzeitlicht wird, war diese Form fuer den intendierten aesthetischen Handlungs-Prozess des Rezipienten besonders foerderlich.

Von den beiden jungen (*1957) amerikanischen Kuenstlern Michael Clegg und Martin Guttmann, die seit 1980 zusammenarbeiten und mit ambivalent inszenierten Portraitfotos bekannt geworden sind, wird das "Buch" erneut in den Mittelpunkt kuenstlerischer Arbeit gestellt. Zwar wollen sie ihr neuestes Projekt einer "Open-Air Library" ("Die offene Bibliothek") ausdruecklich "nicht als Wiederbelebung der (etwas naiven) Arbeiten der 60er Jahre" (C & G 1990) verstanden wissen. Dennoch spielt dabei das Handeln des Publikums eine zentrale Rolle-allerdings in einer ganz anderen Weise als damals. Freilich gab es auch schon seinerzeit ein von Joseph Kosuth (1967), dem Vordenker der Conceptual Art, initiiertes Ausstellungsprojekt, das in die Richtung der "offenen Bibliothk" weist: Kosuth hatte fuenfzehn Konzeptkuenstler aufgefordert, die von ihnen fuer wichtig erachteten und bevorzugten Buecher auszustellen. Ihm kam es darauf an, bereits den elementaren Akt der Auswahl als eine persoenliche Ausdrucksmoeglichkeit und somit als konstitutives Moment jeder kuenstlerischen Arbeit zu thematisieren.

Auch Clegg & Guttmann geht es ganz wesentlich um die Bedeutsamkeit des Auswahlprozesses. Mit der Absicht, die ueberkommene Exklusivitaet des Kuenstlertums zu durchbrechen, stellen sie mit ihrer "Offenen Bibliothek" ein allgemein zugaengliches System bereit, das die Praeferenzbildungen, die alle daran Beteiligten erbringen muessen, organisiert. Diese von Clegg & Guttmann projektierte und jetzt erstmals in der laendlichen Peripherie von Graz realisierte Arbeit besteht aus insgesamt drei frei in der Natur aufgestellten Buechervitrinen. Jede dieser drei in die Landschaft eingefuegten Bibliotheken ist schlicht-funktional aus Holz gebaut und mit einer Glastuer versehen, wodurch die Buecher sichtbar bleiben, aber vor Witterungseinfluessen geschuetzt sind.

Die Bibliotheken muessen ohne Bibliothekare und ohne Beaufsichtigung auskommen; es sind lediglich Hinweistafeln angebracht, auf denen die Bibliotheksordnung erlaeutert wird: Jeder kann aus dem Bestand, wann immer er mag, eine gewisse Anzahl von Buechern entleihen und ist gehalten sie nach einer bestimmten Zeit zurueckzustellen. Durch Tausch bzw. Schenkung koennen die Bibliotheken aber auch erweitert werden. Dass "die Findung und Ausuebung von gewaltlosen Sanktionen gegen die Verletzung des richtigen Gebrauchs der Bibliothek ... zu einer Uebung in metaphorischer Selbstverwaltung werden" (C &G 1990) kann, ist eine der wesentlichen Ideen von Glegg & Guttmann. Ihnen liegt an der "Herausbildung von Kommunikationsformen und Formen gemeinschaftlicher Entscheidungsfindung..., die auch in anderen Bereichen" (C & G 1999) anzuwenden waeren. Als Institution koennte die "Offene Bibliothek" substantiell "zu einer Selbstdefinition der Gemeinschaft beitragen." (C & G 1990)

Als sehr wichtige Komponente gehoert zu dem Projekt von Clegg und Guttmann eine Dokumentation der erfolgten Bibliotheksnutzung. Eigens engagierte Mitarbeiter sollen darueber regelmaessige berichte liefern, die zentral an einer oeffentlich zugaenglichen Stelle gesammelt werden. Hier (z.Z. im Grazer Kunstverein) findet der Besucher auch ein Modell der Bibliotheken, eine Karte mit deren Standorten und grundsaetzliche Erlaeuterungen zu dem Projekt, so dass er mit Vorschlaegen und Kritik darauf reagieren kann, was wiederum dokumentiert wird. Die Dokumentation, vor allem aber die Bibliotheken selbst, spiegeln die Auswahl- und Nutzungsweisen der Beteiligten wider, ihre Lesegewohnheiten sowie intellektuellen Vorlieben. Sie stellen somit "eine Art Portraet einer Gemeinschaft" (C & G 1990) dar. Einstige Funktionen von Malerei und Fotografie werden mit anderen Mitteln wieder erfuellt.

Im gegenwaertigen Stadium fassen Clegg & Guttmann ihr Projekt der "Offenen Bibliothek" modellhaft auf. Darum soll die Dokumentation nicht zuletzt auch als Bewertungsgrundlage fuer die tatsaechliche Durchfuehrbarkeit eines solchen Vorhabens dienen. Dem Modellcharakter entsprechend haben Clegg & Guttmann ihr Grazer Projekt als eine regelrechte Versuchsanordnung konzipiert, als deren Bestandteil auch die Benutzungsregeln der Bibliothek anzusehen sind. Vor allem aber ist jede der drei Bibliotheken mit einem unterschiedlichen Buecherbestand ausgestattet worden. In der Annahme, dass davon Auswahl- und Nutzungsweisen abhaengig sind, ist die eine Bibliothek mit dem ueblichen, repraesentativen Querschnitt, eine andere mit einer zufaelligen Zusammensetzung von Buechern und eine dritte nach den Wuenschen der Bevoelkerung bestueckt worden. Dadurch haben Glegg & Guttmann ihr Projekt des Modells einer "Offenen Bibliothek" selbst zum Modell, zu einem Experimentierfeld fuer die Untersuchung sozialer Interaktionen und Kommunikationen gemacht. Gemaess der systemtheoretischen Kunstanalyse liegt bei ihrem Projekt "die Einheit des Kunstwerkes... letztlich in seiner Funktion als Kommunikationsprogramm" (Luhmann, 1984). Kunst lebt heute nicht mehr in den Werken, sondern durch die Kommunikation ueber die Produktionen, die Werke genannt werden.
Die kuenstlerische Qualitaet ist dann abhaengig von der Qualitaet der Kommuniaktionen.
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Anmerkungen:
Celant, G.: Das Kunstwerk als Buch. In: Interfunktionen No. 11/1974
Claura, M.: Vorwort zur Ausstellung "Book as Artwork" Contemporanea, Rom 1973. In: Interfunktionen No. 11
Clegg & Guttmann: Entwurf fuer eine "Open-Air" Bibliothek. In: Durch 6-7/1990, hrsg. v. Grazer Kunstverein "Die offene Bibliothek". Kunstverein Graz 25.5.-25.8. 1991. Eine Dokumentation erscheint nach Ausstellungsende.
Weitere Publikationen: Galerie Loehrl, Moenchengladbach 1985; Galerie Kubinski, Stuttgart 1987; "Collected Portraits" Wuertembergischer Kunstverein 1988. Metropolis, Berlin 1991
Enzensberger, H.M.: Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Kursbuch 20, Maerz 1970
Kosuth, J.: Non-Anthropomorphic Art. Lannis Museum. New York 1967
Luhmann, N.: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. Delfin III/1984
McLuhan, M.: Gutenberg Galaxis. Duesseldorf 1968
Siegelaub, S. (ed.): The Xerox Book. New York 1968. (Contributions by André, Barry, Kosuth. LeWitt, Morris, Weiner)

copyright: Lingner, Michael

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